Alle wissen, dass Fliegen klimaschädlich ist. Und wer befürwortet schon die Rodung von Wäldern? Dass Beton einen bedenklich großen CO2-Fußabdruck hat, darf ebenso als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden. Selbst mit dem Begriff der grauen Energie wird weit über Baufachkreise hinaus routiniert umgegangen. Es ist kaum noch möglich, als Planer:in eine Veranstaltung zu besuchen, auf der es nicht um Ressourcenschonung, Low-Tech und Bauen im Bestand geht. Gut so! Auf dieser Flughöhe dürfen wir uns als Nachhaltigkeitsweltmeister:innen fühlen.
Gehen wir allerdings in den Landeanflug, dann erheben sich die Mühen der Ebene wie ein riesiges Gebirge vor uns. So saftig ist das Rindersteak, so günstig der Urlaubsflug, so bequem das Auto. Und die Stahlbetonwand ist wieder einmal billiger als jede andere Konstruktion. Unübersehbar ist, dass allerorten fleißig abgerissen wird. Entschuldigung, das heißt natürlich „rückgebaut“. Beim Bauen handelt es sich offenbar um einen vollkommen reversiblen Prozess.
Immer häufiger treffen diese Abrissentscheidungen Bauten, die noch nicht einmal ihre anzunehmende Lebensdauer von mindestens 60 bis 80 Jahren erreicht haben. Ein prominentes Beispiel ist der Palast der Republik in Berlin, der es auf eine Standzeit von knapp 40 Jahren brachte.
Ein ähnlicher Fall sorgt im Prenzlauer Berg für politische Verwerfungen auf Landesebene. Hier soll nach dem Willen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, der seit der neuen Legislaturperiode ebenfalls SPD-geführten Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen (SenSBW) sowie weiter Teile der Berliner SPD das vor 35 Jahren zur 750-Jahr-Feier Berlins errichtete Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion abgerissen und an derselben Stelle durch einen Neubau gleicher Nutzung und gleicher Zuschauer:innenkapazität ersetzt werden. Man mag zugutehalten, dass vor rund zehn Jahren, als das Projekt seinen Anfang nahm, die Sensibilität für Klimaschutz, Ressourcenschonung und die dringende Notwendigkeit des Bauens im Bestand noch geringer war als heute. Immerhin durfte das Thema „Reduce, Reuse, Recycle“ des Deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig 2012 als avantgardistisch durchgehen. Längst ist es diskursprägend geworden, doch seine statistische Relevanz im schwerfälligen Bauwesen ist immer noch erschütternd gering.
Im Jahr 2020 allerdings war mit einer Machbarkeitsstudie von 2014, die den Komplettabriss des Stadions samt Abtrag des Schuttwalls und Rodung von bis zu 50 Prozent des reichen Baumbestands vorsah, kein Tor mehr zu erzielen, sehr wohl aber ein massiver Bürger:innenprotest. Dieser fand Rückhalt in der Regierungskoalition und gab dem Vorhaben schnell einen anderen Verlauf, das Ergebnis ist jedoch noch offen. Aus dem bisherigen Geschehen können aber bereits einige Erkenntnisse gewonnen werden.
1. Projektziel
Anlass des Projektes ist der Wunsch einschlägiger Sportverbände und -vereine nach einem Inklusionssportpark mit Eignung für Großveranstaltungen des Inklusions- und Parasports. Dieses grundsätzlich sympathische Anliegen wurde gekoppelt mit Interessen des Fußball- und Leichtathletikleistungssports an einem mittelgroßen Stadion. Diese doppelte Zielsetzung wurde und wird nicht offen kommuniziert. Stets wird der Inklusionssport vorgeschoben. Doch zu Inklusion gehört weitaus mehr:
„Eine inklusive Stadt, also eine sichere, gesunde, zugängliche, bezahlbare, widerstandsfähige und nachhaltige Stadt, an der alle Menschen ohne Diskriminierung irgendwelcher Art teilhaben können, ist ein weltweit anerkanntes Ziel der Stadtentwicklung. Dennoch lässt sich für Deutschland feststellen, dass eine zunehmend differenzierte Gesellschaft dazu tendiert, sich in homogenen Gruppen aufzugliedern. Diese Entwicklung wird auch im Stadtraum ablesbar – durch segregierte Stadtteile und einer Zunahme exklusiver Orte.“ Aus: Andrea Benze, Ist die Stadt inklusiv?, marlowes.de, 23. März 2021
2. Die Standortwahl
Der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ist mit fast 17 Hektar eine der größten, jedenfalls aber die am zentralsten gelegene Großsportstätte Berlins. Das hat Vor- und Nachteile. Die ÖPNV-Erschließung ist vielfältig, aber nicht ausreichend barrierefrei. Ein tragfähiges Verkehrskonzept für den Umgang mit dem motorisierten Individualverkehr fehlt, da seit über 20 Jahren auf die Durchsetzung des im Zuge des Baus der Max-Schmeling-Halle vereinbarten Konzeptes verzichtet wird. Das andernorts bewährte Mittel von Kombitickets fehlt hier aus nicht nachvollziehbaren Gründen. Die mindestens am Wochenende extrem hohe Nutzungsdichte des Mauerparks muss ebenso mitberücksichtigt werden wie legitime Interessen der Anwohner:innenschaft in einem hochverdichteten Wohngebiet. Dazu zählt die Sorge, künftig von der Nutzung der Sportanlagen ausgeschlossen zu werden. Dennoch: Ein Inklusionssportpark gehört ins Stadtzentrum und nicht ins Industriegebiet an der Autobahn. In die grundsätzlich nachvollziehbare Standortwahl wurde die Bürger:innenschaft der infrage kommenden Standorte nicht einbezogen. Die Beteiligung der Anwohnenden am Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark begann erst, als dieser Standort für das „Leuchtturmprojekt“ längst gesetzt war. Das Projekt wäre vermutlich besser vermittelbar gewesen, wenn früher Licht ins Dunkel gekommen wäre.
3. Öffentlichkeitsbeteiligung
Die Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgte zunächst online im Februar 2020. Kommuniziert wurde diese Beteiligungsphase über die Verteiler der ansässigen Sportvereine. Offenbar wird Beteiligung hier und da als Holschuld der Bürger:innenschaft verstanden. Dank aufmerksamer Anwohnender konnte immerhin erreicht werden, dass wenigstens rund 50 Prozent der Beteiligten nicht den Sportvereinen zuzurechnen sind. Dass das Beteiligungsformat zum Inklusions-Sportpark selbst nicht inklusiv war, passt ins Bild.
4. Multiperspektivische Stadtplanung
„Eine inklusive Stadt aus der Perspektive einer einzelnen Teilgruppe zu denken, wird dem Konzept Inklusion in keiner Weise gerecht, es muss vielmehr darum gehen, Stadt aus der Vielheit, der Diversität zu entwickeln.“ Aus: Andrea Benze, Ist die Stadt inklusiv?, marlowes.de, 23. März2021
Ein Stadion mit 20.000 Plätzen, fast 12.000 m² Großsporthallen und mehr als 26.000 m² Außensportanlagen zuzüglich aller mehr oder weniger zugehörigen Lager-, Garderoben- und Büroflächen stellen ein beträchtliches Bedarfsprogramm dar, dessen Integration in einen städtischen Kontext selbstverständlich einen interdisziplinären Planungsprozess erfordert, um den vielen Aspekten eines solchen Eingriffs gerecht zu werden. Beim Jahn-Sportpark wurde jedoch kaum über die Seitenlinien der Kunststoff-Spielfelder hinaus geschaut. Die Federführung oblag der Sportverwaltung. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zog sich auf die Rolle der „Baudienststelle“ zurück und verkannte bis zum Rücktritt der Senatorin im August 2020 ihre zwingend erforderliche Aufgabenwahrnehmung in ihrem ureigensten Bereich, eben der Stadtentwicklung, die von der Bürgerinitiative Jahnsportpark beharrlich und letztlich erfolgreich eingefordert wurde. Nach wie vor sehr unbeteiligt verfolgt die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz das Projekt, obgleich es mehrere ihrer Themen stark berührt.
Es verwundert kaum, dass das auf 97 Mio. € veranschlagte Stadion im Rahmen einer Genehmigung nach § 34 genehmigt werden sollte. Ob sich ein Stadion „in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt“, ist eine Frage des Betrachtungsrahmens. Beschränkt man sich auf den Sportpark, so mag das gerade noch angehen. Weitet man den Blick über die Fangzäune hinaus, wird es schwierig. Vermutlich war sich der Senat der Unrechtmäßigkeit dieses Vorgehens durchaus bewusst, vertraute aber darauf, dass die einzige klageberechtigte Anliegerin, die Deutsche Wohnen, in Anbetracht der Mietpreis- und Enteignungsdebatte wegen des Stadions keinen weiteren Streit anzetteln würde. Immerhin wurde 2020 dann doch entschieden, den rechtssicheren Weg eines Bebauungsplanverfahrens zu beschreiten.
Die über viele Jahre ausschließlich sportfachliche Betrachtung des Vorhabens hat die unerfreuliche und auch höchst unproduktive Folge, dass Inklusion gegen alle anderen Aspekte ausgespielt wird. Es wäre gesellschaftlich aber fatal, wenn Klimaschutz und ernst gemeinte Inklusion nicht gleichzeitig zu realisieren wären. Oder Inklusion und Baukultur. Oder Inklusion und Artenschutz.
5. Planen vor Bauen
Im Herbst 2020 sollten die Rodungs- und Abrissarbeiten beginnen, im Sommer 2023 die Special Olympics World Games im neuen, inklusiven Jahn-Stadion stattfinden – ein völlig unrealistischer Zeitplan, denn im Frühjahr 2020 lag erst eine Machbarkeitsstudie vor. Das ist keine Planung, sondern deren Grundlage. Und natürlich müssen bei einem öffentlichen Bauvorhaben dieser Größe sowohl die Planungs- wie die Bauleistungen europaweit ausgeschrieben werden. Wollte der Sportstaatssekretär es nicht zur Kenntnis nehmen oder ließ ihn die „Baudienststelle“ in Unkenntnis, weil sie nicht gefragt wurde? Immerhin leuchtete einigen Abgeordneten, die teilweise in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit einem international unrühmlich bekannt gewordenen Berliner Großprojekt zu tun hatten, unmittelbar ein, dass sinnvollerweise erst geplant und dann gebaut wird. Die Special Olympics werden im kommenden Jahr also in Berlin, aber nicht im neuen Jahn-Stadion stattfinden.
6. Bestandserhalt
Wird ein abstrakt entwickeltes Wünsch-dir-was-Bedarfsprogramm an baulichem Bestand gemessen, gerät die Abrissbirne schnell in erregte Schwingungen. Wer Bauen im Bestand ernst nimmt – und das ist angesichts des verheerenden Beitrags des Bauwesens von 38 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß, zum materiellen Ressourcenverbrauch und zum Müllaufkommen unabdingbar -, die:der muss die eigenen Planungen am Bestand ausrichten: Was kann saniert, um-, an- und weitergebaut werden? Welche Standards sind überhaupt erforderlich? „Wie kann man bestehenden gebauten Räumen zeitgemäße Programmierungen einschreiben? Wie können dabei immanente, bisher vielleicht kaum beachtete Qualitäten freigesetzt und für eine nachhaltige Gestaltung und Konzeption des Gebauten fruchtbar gemacht werden?“, so formuliert es Robert Kaltenbrunner in der Berliner Zeitung vom 8. Juni 2022.
Beim Jahn-Stadion geschah nichts dergleichen. Von Anfang war der Abriss gesetzt, der Form halber wurde sichtbar halbherzig eine (1) „Sanierungsvariante“ neben sechs (6) Neubauvarianten untersucht. Über Jahre hinweg wurde, aus Unkenntnis oder gezielt, Sanierung mit Umbau gleichgesetzt. Erst im Rahmen eines in Folge des Bürger:innenprotests und des daraus resultierenden Zerwürfnisses in der Regierungskoalition durchgeführten Werkstattverfahren wurde erst- und einmalig eine Umbauvariante seriös geprüft.
Den Abriss eines Fußball-Leichtathletikstadions mit 20.000 Plätzen zugunsten eines neuen Fußball-Leichtathletikstadions mit 20.000 Plätzen können wir uns nur noch finanziell leisten. Wir sind zu technischen Höchstleistungen in der Lage, nicht aber zu einem Umbau, der 200 rollstuhlgerecht zugängliche Plätze an verschiedenen Stellen der Ränge gewährleistet? Wir reden von Klimaneutralität in weniger als 30 Jahren, reißen aber ein 35 Jahre altes Tribünengebäude ab, weil es zu wenig Fläche für den VIP-Bereich bietet? Dieser ist nebenbei bemerkt mehr als doppelt so groß wie der immerhin inklusive Umkleidebereich.
„Wenn das Umbauen, Erhalten, Weiterbauen an sich schon eine ökologische Qualität ist, erhalten die architektonischen Techniken des Umbaus mit dem Bestand wie Collage, Kontrast, Anpassung eine auch in neu zu Bauendes ausstrahlende Fundierung. Das Entwerfen ist nun immer schon unter der Voraussetzung des Bestehenden zu verstehen, das den Rahmen setzt, aber die Unterordnung nicht einfordert, sondern die Lust weckt, sich durch das Bestehende herausfordern zu lassen und mit ihm in den Dialog zu treten.“ Aus: Christian Holl, Ziemlich bald Bestand, marlowes.de, 24. Mai 2022.
Es bleibt nun abzuwarten, wie die am Wettbewerb Teilnehmenden damit umgehen, dass das
Bedarfsprogramm sowohl die Bestandsbauten als auch die zur Verfügung stehende Fläche im Sportpark überfordert. Das hat das Werkstattverfahren anhand aller drei Studien deutlich gemacht, allein die Lehren wurden daraus nicht gezogen. Ein verhandeltes Bedarfsprogramm ist nicht in Stein gemeißelt, aber in Beton gegossen.
7. Baunebenrecht
Den Rahmen dieses Artikels würde es sprengen, die Rolle der Fußballverbände im lukrativen Geschäft von Abriss und Neubau zu betrachten. Das Jahn-Stadion ist ja alles andere als ein Ausnahmefall: Bökelberg, Wankdorf, Wembley, San Siro, … – die Liste ist lang und teilweise illuster. Obwohl noch immer elf gegen elf mit einem Ball auf zwei Tore spielen und die zulässige Platzgröße bemerkenswert variabel ist, stellen Verbände wie FIFA, UEFA und DFB immer neue Bestimmungen auf, deren Erfüllung Voraussetzung für die Teilnahme an ihren Wettbewerben ist. Damit schaffen sie reichlich unkontrolliert und intransparent verbindlich einzuhaltendes Baunebenrecht. Ständig steigende Anforderungen seitens der Sicherheits- und Rettungskräfte, von Presse und Fernsehen, aber auch von VIP-Flächen sind oftmals durch bestehende Stadien nicht oder nur mit großem Aufwand zu erfüllen. Während die Bundesregierung neuerdings wieder zum Energiesparen aufruft, fordert etwa der DFB zwingend eine Rasenheizung – schon ab der 3. Liga! Dieser Entwicklung muss dringend Einhalt geboten werden, im Interesse der Baukultur wie der Ressourcenschonung. Die Bau(stoff)industrie wird es verkraften; dem Fußball, diese Prognose sei hier gewagt, wird es nicht schaden.
Fazit
Es bleibt das Geheimnis der Berliner Politik und Verwaltung, weshalb diese recht banalen Erkenntnisse, geradezu Binsenwahrheiten, nicht von Anfang an beherzigt wurden. Warum es des ehrenamtlichen Engagements zahlreicher Bürger:innen bedurfte, um das Projekt vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aktuell läuft die erste Phase eines interdisziplinären Realisierungswettbewerbs. Der Auslobungstext fordert nun doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Bestand auf: mit den Trümmerschuttwällen, dem Haupttribünengebäude und den Flutlichtmasten von 1987 sowie der sehr vielfältig für überwiegend informellen Sport genutzten Sportwiese. Damit wurden wesentliche Forderungen der Bürgerinitiative Jahnsportpark berücksichtigt.
Problematisch ist allerdings, dass das Bedarfsprogramm für den Sportpark – anders als jenes des Stadions – so spät vorgelegt wurde, dass es nicht im aktuellen Doppelhaushalt berücksichtigt werden konnte. Der Realisierungsauftrag beschränkt sich damit auf das Stadion – und einen „Gestaltungs- und Entwicklungsleitfaden für den Sportpark“. Wir erinnern uns: Anlass des Projekts war eigentlich ein inklusiver Sportpark, nicht ein neues Stadion. Es wird sich zeigen, inwieweit sich die am Wettbewerb teilnehmenden Arbeitsgemeinschaften mit der erforderlichen Sorgfalt und Hingabe mit der viel schwierigeren Aufgabe der Gestaltung des Sportparks beschäftigen werden – oder doch eher mit dem lukrativeren und im Zweifelsfall wettbewerbsentscheidenden Stadion.
Sollte die Beton- und Abrisswut obsiegen, steuern wir eher auf den Absturz statt auf eine angenehme Landung für alle Passagier:innen zu und können uns weiterhin nur in unseren Träumen Nachhaltigkeitsweltmeister*innen nennen.
Text und Fotos: Philipp Dittrich, Architekt und Mitglied der Bürgerinitiative Jahnsportpark